Machtvolle Entscheidungen

Ich gehe davon aus, daß alle Entscheidungen, die ich und wir alle in der Gegenwart treffen, "machtvoll" sind. Sie bewirken Prozesse, die in der Zukunft liegen. Insofern ist jede - auch relativ kleine und intime bis hin zu den größeren - Entscheidungen ein Auslöser für die Zukunft.

Die Gegenstände und die Personen, die Beziehungen und Verhältnisse sind in diesem ausgelösten Prozeß in Bewegung und oftmals strömt eine große Kraft und Energie ein. Die Entscheidung ein Kind zu wollen, löst beispielsweise bekannte Konsequenzen aus, seine Ausbildung abzubrechen oder eine andere aufzunehmen ebenfalls, politische Entscheidungen, wie der Bau von Kernkraftwerken oder neue Waffensystemen, der Bau von Autobahnen belegen, daß alles, was wir entscheiden und in Bewegung setzen, Folgen für die Zukunft haben. Insofern ist es wichtig bei allen Entscheidungen diese "Nachhaltigkeit" mitzubedenken.

Wenn ich mir natürlich die Entscheidungen im Globalen anschaue, dann fühle ich mich manchmal hoffnungslos unterlegen. So werden Asylsuchende abgeschoben, Kriege angezettelt, Menschen ihre Arbeit genommen oder erst gar nicht ausgebildet. Die Macht, das Geld, die Manpower befinden sich auf Seiten eines bestehenden Systems, was den Menschen als Mittel Punkt, sieht und nicht im Mittelpunkt sieht. Der Mensch wird leider nur nach verwertbaren Eigenschaften bewertet. Wir brauchten aber eine Politik der Globalisierung des Friedens, der Verbundenheit und Solidarität mit allen unterdrückten und geknechteten Menschen, Menschen und Gruppen, die eingreifen und das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Wir befinden uns ja im Zeitalter der Globalisierung. Globalisierung bedeutet aber für die allermeisten Menschen der Welt eine zunehmende Armut. Es bedeutet, dass z.B. Bauern gezielt die Lebensgrundlagen entzogen werden. So wird immer mehr fruchtbares Land auf der Erde unter die Kontrolle einer globalen Wirtschaft gezogen. Es gibt leider so viele Beispiele für die Globalisierung der Gewalt, das ich mir schon schwer tue nur eins hier zu nennen. In der aktuellen Ausgabe des Greenpeace Magazins wird erwähnt, daß im Sudan die Zivilbevölkerung von äthiopischen Söldnern gewaltsam von ihrem Land vertrieben werden. Ganze Dörfer werden ausgerottet, Männer, Frauen, Kinder umgebracht, verbrannt. Und warum? Damit Ölkonzerne dort Erdöl fördern können. Das ist eigentlich nicht zu glauben, aber wahr. So ist eben unsere Entscheidung für ein Auto und für Flugzeuge verbunden mit der Ausbeutung in anderen Ländern der Erde. Dies gilt es mitzubedenken auch angesichts der Proteste gegen höhere Benzinkosten.

Weltweit arbeitet hier eine unselige Allianz aus Banken, transnationalen Konzernen, Lokalen Militärregierungen und Geheimdiensten unterstützt von westlichen Regierungen. So werden Regierungen mit Waffen versorgt, gerade von uns auch. Wir verdienen daran und anderswo sterben dadurch Menschen. Wenn wir da schweigen, machen wir uns mitschuldig. Ich höre dabei immer die Stimme, was kann ein Einzelner schon verändern?
Wir sind doch alle ohnmächtig. Mit diesen Sätzen können wir uns als Lügner entlarven wie unsere Eltern, die von nichts gewußt haben Ich habe auch keine Patentlösung, allerdings kann Ich als Lehrender meinen Teil dazu beitragen, Menschen zu entwickeln, die nicht passiv, sich ohnmächtig fühlen, sondern sich entscheiden können, einen nicht formierten und normierten Weg einzuschlagen und dem gesellschaftlichen Mainstream Verweigerung oder Widerstand entgegensetzen und für eine Kultur des Friedens und der Lebensmöglichkeiten aller auf dieser Erde einzutreten. Dazu möchte ich noch ein paar meiner Gedanken anführen:

Ausgehend von Gedanken von Peter Weiss ("Ästhetik des Widerstandes"), Michel Foucault ("Überwachen und Strafen") und Augusto Boal ("Theater der Unterdrückten") brauchen wir Menschen, die die verinnerlichte Macht nicht in Form des Herrschaftshandelns (und damit zur Unterdrückung von anderen und der Natur) sondern als Befreiungshandeln (für sich und andere) einsetzen können, d.h. er/sie muß die Macht als Kontrolle über andere zugunsten einer Verantwortung für eine humane Lebensgestaltung für alle Menschen verringern und aufgeben. In diesem Sinne sollte die zukünftige Persönlichkeit politisches Handeln ausschließlich als soziales Handeln verstehen. Die "Politik" des Zusammenlebens sollte im Anschluß an W.F.Haug ein "Kulturprojekt sein". Das Kulturelle wird begriffen als gesellschaftliche Praxis, in denen die Subjekte sich selbst und ihre eigene allseitige Entfaltung als Zweck ihrer Aktivitäten setzen ("Selbstvergesellschaftung von unten"). Begründung:

Die drei oben genannten Vertreter aus den Bereichen Literaturwissenschaften/Kunst, Theater und Soziologie/Philosophie haben vieles gemeinsam. Seve hat Anfang der 70iger Jahre in seinem Kultbuch "Marxismus und die Theorie der Persönlichkeit" im Zusammenhang mit Aussagen von Politzer so ausgedrückt. Eine Persönlichkeits-psychologie muß herausarbeiten und dem Menschen zu helfen, dies auch zu können, "was ein Mensch aus seinem Leben macht und was sein Leben aus ihm macht".

So hat nun Peter Weiss in seinem Roman "Die Ästhetik des Widerstandes" eine Ganzheit von Kunst und Politik, von Kunstgeschichte, Weltgeschichte, Geschichte des Sozialismus und antifaschistischen Kampfes versucht, ohne je einen direkten Politroman mit agitatorischer Tendenz oder Anleitung zur politischen Praxis damit zu beabsichtigen. Er versucht etwas zu überwinden, daß Menschen, die in politischen Zusammenhängen leben und sich nicht ständig anpassen, besitzen: Selbstzweifel, Identitätsverluste, aber auch ein Stück Selbstbehauptungswille anstelle von absoluter Zukunftsgewißheit. Politische Handlungsräume werden erweitert durch die Kunst und Kulturgeschichte aus Sicht der Unterdrückten. Seine Helden sind Arbeiter, die die Bedeutungen von Bildern und Romanen erschließen und etwas tun, was sonst nicht möglich ist:

Unterprivilegierte sog. nicht gebildete Arbeiterinnen lassen die Bilder (Kunst) auf sich wirken und erschließen sich ihre revolutionäre Erkenntnis. Ihm geht es um vieles, was für eine Persönlichkeit der Zukunft Richtung hat, nämlich um Ausdrucksfähigkeit, um Vorstellungsvermögen, historische Phantasie, um Widerstand gegen Unterdrückung der menschlichen Ressourcen, um allgemeine Handlungsfähigkeit des Menschen in komplizierten historischen Zeiten.
Volker Braun hat Weiss mal so zusammengefaßt "Und wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen". Peter Weiss ringt hier um Sprache, um Sinn, um Bedeutungen und Handlungsfähigkeit, gegen Egoismus, Selbstaufgabe, gegen Zynismus und Herrschaft, aber durchaus im Kampf gegen sich selbst in Form von kritischer Selbstreflexion. Augusto Boal hat mit seinem "Theater der Unterdrückten" diese kritische Selbstreflexion durch seine Methoden des Theaters (Simultane Dramaturgie, Unsichtbares Theater, Forumtheater) allerdings auf anschaulicher Handlungsebene ebenfalls anvisiert und möchte den entfremdeten Körper sensibler, ausdrucks- und sprachfähiger machen.

Bei ihm geht es sinnlich konkret um Bewußtmachung und Begreifen der unsichtbaren Fäden, die Strukturen genannt werden, zu ergründen: "Den Polizisten im Kopf: Durch den belustigenden schalkhaften heftigen Widerstand in Form von Körper und Sprache sollen Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein beim Menschen entstehen und ein Gefühl, den Autoritäten etwas entgegenzusetzen. Aber eben auch ein Gefühl von praktischer Verantwortung und moralischer Integrität. Wir reden nicht nur, regen uns auf, wir tun auch etwas.

Damit der Einzelne sich als ein wirkungsvolles Subjekt individueller wie der allgemeinen Geschichte begreift, soll und muß Widerstand gegen beeinträchtigende, ja unterdrückende Strukturen sozialer und gesellschaftlicher Art geleistet werden. Ein gewohnter Ablauf wird gesprengt, und es kann deutlich werden, daß die Macht der Gewohnheit oft als Gewohnheit der Macht erscheint und erkannt werden kann. Im günstigsten Falle bemerkt der Mensch dann, daß ohne ihn die Geschichte anders, repressiver und auch ärmer verlaufen würde. "Du hast etwas von mir und ich erkenne einiges in deiner Geschichte wieder. Sicher habe ich Besonderheiten, aber für uns gewinnen sie allgemeine Bedeutung. Dieses allgemeine hilft uns, Gesellschaft besser zu verstehen." (Boal zit. n. Ruping 1991 S. 19)

Michel Foucault hat nun besonders die verinnerlichte und durch uns hindurchgehende Macht in Form des Herrschaftshandelns untersucht. Für Foucault ist die Macht nicht allein ein Problem der Repression, eines "Oben-Unten" Schemas, Die Macht unterdrückt nicht einfach das Leben, sondern sie hat sich des Lebens bemächtigt, ist vielfältig und einfallsreich. Sie diszipliniert die Körper der Individuen, steigert aber auch ihre Fähigkeiten, nutzt ihre Kräfte, reguliert die Bevölkerung, Die Macht als ein Kräfteverhältnis durchdringt die gesamte Gesellschaft und dringt in alle menschlichen gesellschaftlichen Beziehungen ein. Die Menschen werden von der Macht in ihre Strategien vermischt und integriert. Die Menschen sind in ihren gesellschaftlichen Beziehungen, in die Strategien der Macht eingeflochten. Sie werden in ihnen geordnet und neu bestimmt. Die Menschen sind Träger der Macht. Die Macht produziert somit ihre Subjekte, bevor sie unterdrückt. Foucault malt ein Bild einer immerfort währenden Schlacht auf vielfältigen Schlachtfeldern mit vielfältigen lokalen Strategien, Diskursen, Interessen und Taktiken.

Was Foucault verlangt und worauf er hinzielt, ist, daß das Leben wieder als eine Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse verstanden werden muß mit einer Entfaltung und Fülle von Möglichkeiten.
Er fordert einen Kampf, in dem das Leben als politisches Thema sich gegen das System von Macht/Strukturen wendet, das die Kontrolle über den Menschen übernommen hat. Es geht wie Nietzsche sich ausdrückt, das Leben aus dem Gefängnis zu befreien, in dem es durch die Menschen eingeschlossen wurde, um Kampf gegen alle Strukturen, die die Entfaltung des Lebens behindern, bedrohen oder zerstören. Die Persönlichkeit der Zukunft hat einen neuen Identitätsbegriff; eine geschlossene klare und sichere Identität hat es wahrscheinlich nie gegeben. Wenn es sie gab, dann war es in letzter Konsequenz ein Identisch-Sein mit den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen.

Persönlichkeit im Sinne der genannten Autoren bedeutet Potentialität, Möglichkeit eines ständigen Werdens: unablässige Metamorphose. Im Kampf für das Leben, sollen die Individuen von sich selbst ausgehen, von ihren eigenen Bedürfnissen und für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse aktiv werden und handeln. Hierzu gehören dann auch Vorstellungen von einer Gesellschaft, in der die Menschen sich von den Fesseln einer lebensfeindlichen Politik der Kapitalakkumulation befreien. "Der Kampf für eine moderne Subjektivität geht durch einen Widerstand gegen die beiden aktuellen Formen der Unterwerfung hindurch: die eine besteht darin, uns gemäß den Ansprüchen der Macht zu individualisieren, die andere darin, jedes Individuum an eine gewußte und bekannte, ein für allemal festgelegte Identität zu fesseln. Der Kampf für die Subjektivität präsentiert sich folglich als Recht auf Differenz, als Recht auf Variation, zur Metamorphose." (Deleuze I987,s.I48) Der Verwertungsgedanke in der heutigen Gesellschaft und was können wir dem entgegensetzen?

Eine Krise, die zu Neurosen, Psychosen oder sogar zu Suizid führt, wird nicht allein in der Unmittelbarkeit der Beziehungen des Menschen mit seiner Umwelt bedingt und entwickelt. Die Begründung für die Krise und ihren Bewältigungsmöglichkeiten liegt tiefer.

Wir leben in einer Kultur, die durch und durch dem Bewertungsprinzip unterliegt, das in engem Zusammenhang mit dem Verwertungsprinzip steht. Mit unserer Ökonomie ist das Ausrichten nach Nützlichkeit (Utility), nach Verwertbarkeit, nach Profit vorgeschrieben. Jeden Tag lesen wir dazu Stellungnahmen, Klagen, Beschreibungen, Entwicklungen, die uns nachdenklich machen könnten. Wirft ein Betrieb nicht genügend Profit ab, traut man einem Buch nicht genügend Absatz zu, erreicht eine Fernsehsendung nicht genügend Quoten, hat man im Beruf und in der Liebe nicht genügend Erfolg.......erscheint die Bewertung des Mißerfolges, in stärkerem Maße des Versagens bzw. des Untergangs angesagt.

Wie stark wir jedoch unserem gewohnten Denken verhaftet sind, ohne es einmal kritisch zu hinterfragen, zeigt die Position von einem Kollegen von mir am Oberstufen-Kolleg zur Begründung, um auf Chancengleichheit zu verzichten. In zweckrationalen Argumenten wird dabei scheinbar selbstverständlich und ausschließlich im pädagogischen Prozeß ökonomisch gedacht. "Wir sind ...eine Fehlallokation von Ressourcen in dem Sinne, daß Ressourcen nicht dort eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen erbringen. Nur eine Minderheit des Kollegiums hat m.E. die Kompetenz, mit den eher sozialpädagogischen Problemen mit denen wir täglich konfrontiert werden, angemessen umgehen zu können."...Eine Legitimation des Oberstufen-Kolleg (OS) sehe ich nur in einer konsequenten Orientierung an dem sog. "elitären" Kern des ursprünglichen OS-Konzeptes. Das bedeutet jedoch, daß von der Idee, einen Beitrag zur Chancengleichheit zu leisten, ohne wenn und aber Abschied genommen werden muß.

Das OS muß offen und aggressiv in Konkurrenz zu den Gymnasien treten. Es muß attraktiv für die Leistungsstärksten und nicht die Leistungsschwächsten werden.".."Marktlücken ausnützen"... "Qualität auf den Märkten durchsetzen...hochwertiges Angebot sichern." (vgl. Classen 1996)

Das typische Vokabular Selektion, Konkurrenz und Nützlichkeitserwägungen, steht im Vordergrund. Begriffe deren Handlungen und Konsequenzen wir jeden Tag in der ganzen Welt spüren können. Zunahme der Umweltverschmutzung, Zunahme der psychischen Verelendung, Zunahme der Arbeitslosigkeit, Zunahme der Ellenbogengesellschaft usw.

Wolf Dieter Narr hat in einem Vortrag des "Mannheimer Kreises" 1989 gesagt "Das Stehaufmännchen Mensch ist in Gefahr, sein nötiges soziales Bleigewicht zu verlieren und zur Flocke im Fortschrittswind zu werden." Die Parolen der Französischen Revolution am Eingang der Bürgerlichen Gesellschaft -Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - haben "nur einen Wimpernschlag" lang wirklich ihren lebensnotwendigen Zusammenhang bewahrt. Die Bürgerliche Gesellschaft entschloß sich für die Freiheit als entscheidender Motor des ökonomischen Fortschritts. Der Markt wurde zwar "frei", die Menschen aber isoliert, atomar, a-sozial, gegeneinander konkurrierend, rivalisierend, nur nach meßbaren Leistungswert beurteilt und eine Einstellung geschaffen, die Andersartigen als "Schmarotzer", als "Faulpelze" und sonstwie zu verurteilen und ihnen mit Druck und Sanktionen zu drohen. Gleichheit und Brüderlichkeit blieben auf der Strecke. Dadurch haben aber alle Ideale der Menschheit Schaden genommen.- Die Freiheit zeigte nur ihre instrumentelle Seite. Heute drückt sich das in ökonomischen Begriffen wie Dynamik, Mobilität und Flexibilität aus. Gleichheit gibt es höchstens im Wahlrecht und vor dem Gesetz und wie steht es mit der Solidarität?

Es ist doch klar, wer auf dem freien Markt die Starken stärkt und sie organisieren läßt, schließt andere aus. Diese Frage wird als "soziale Frage" zwar immer mitgetragen, in manchen Zeiten aber stellt sich der Nutzwert in der Frage, ob diese Schwachen nicht überflüssig, unproduktiv überhaupt sind. Sind die anderen nicht überflüssige Kostenfaktoren? Euthanasie war hier nur eine Lösung, die als Folge des Verständnis von unbrauchbaren Menschen aufkam. Die Nazis hatten Pläne die soziale Frage endzulösen, eine Gesellschaft, ohne sozialen Ballast wirtschaftlich und militärisch zu stärken.

Sind wir auch heute an einem Stand, wenn man die Gentechnologie und die Gedanken einer vorbeugenden Vision einer leidensfreien Gesellschaft betrachtet, dann ist der Euthanasie Gedanken nicht mehr weit. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind aber unteilbar. Entweder gelten sie für alle Menschen oder für keinen. Solange wir also im ökonomischen Denken verfangen sind, werden wir immer uns im Kreis bewegen, was ist nützlich und was ist nicht nützlich. Wenn wir allerdings den ökonomischen Gedanken radikal weglassen, kommen wir zu einem anderen Menschen- und Gesellschaftsbild.

Ich finde in den Mosaiksteinen von Klaus Dörner (1992) dazu einige nachdenkenswerten Formulierungen:

* Der Mensch ist zuerst ein soziales Wesen, nicht ein Individuum

Wenn wir Menschen individualisieren, dann unterliegen wir einer technischen Abstraktion, die aus dem Modell des freien Marktes abgeleitet ist. Ein Mensch wird nie allein psychisch krank. In Wirklichkeit ist der Mensch schon bei der befruchteten Eizelle ein Jemand mit einem Beziehungsgeflecht und der Bedeutung für eine Mehrzahl von Menschen hat. Der Mensch ist primär mit anderen, für andere, auf andere angewiesen, verwirklicht sich im anderen, macht etwas Gemeinsames.

* Selbstverständliche Gleichheit aller Menschen

Jeder Mensch ist ein ganzer Mensch. Er verändert sich dauernd und wandelt sich, ist angewiesen auf mitmenschliche Zuwendung und Wärme, ist empfänglich für Stimmungsqualitäten, hat ein inneres Echo, also Emotionalität, hat viele Möglichkeiten, die offen bleiben, verweist über seine empirische Erscheinung stets über sich selbst hinaus auf andere. Jeder Mensch weist Behinderungen und Nichtbehinderungen auf, hat also Stärken und Schwächen.

* Die Randständigen sind wichtig

Wenn ich bei der Konstruktion meines Menschenbildes vom idealen Menschen oder auch nur vom Durchschnittsmenschen ausgehe, klammere ich dabei von vornherein alle abweichenden Menschen aus meinem Menschenbild aus. Wenn ich das nicht will, dann muß ich mit den abweichenden und randständigsten Menschen beginnen. Dazu gibt es aus 2 Gründen keine Alternative:

1. weil sonst den randständigen Menschen ihr Menschsein aberkannt, sie als Sachen wahrgenommen und bei Gelegenheit über den Tellerrand der Gesellschaft hinausgeschleudert und vernichtet werden;

2. weil ich sonst zu den fundamentalsten Aussagen über den Menschen nicht kommen kann. Die Betrachtung der Menschen nach dem Nutzwert hat die Bequemlichkeit auf seiner Seite. Diejenigen kriegen Zuwendungen, für die es sich lohnt. Das Gesundheits- und Sozialsystem ist auch nach wirtschaftlichen Prinzipien organisiert. Die Entwicklung von Menschen prinzipiell unberechenbar. Jeder Mensch kann zu jedem Zeitpunkt einen neuen Weg finden, sich neue Ziele setzen, je nach Lebensphase mal mehr unabhängig oder abhängig mal mehr Freiheit, mal mehr Sicherheit benötigen. Die bürgerliche Gesellschaft und damit die Freiheit des Marktes erfand flächendeckende Institutionen, die für unbrauchbare Gruppen geschaffen wurden, um Insassen zu kontrollieren , zu depersonalisieren, zu verwahren, zu verwalten, zu erziehen, zu therapieren und zu verwissenschaftlichen.

Es gilt nun für mich als Lehrenden in der Schule "dem Leben Würde und Gestalt zu verleihen" (Hentig) Dazu ein paar Anregungen, die ich in ihrer Ableitung z.B. von Foucault und anderen wichtigen Personen hier nicht leisten kann. Sie gehen aber mit ein und ergeben ein Bildungskonzept für die Zukunft, wie ich sie mir wünsche:

Statt Angst:
Mut haben und Mut machen

Statt vorgefertigter Antworten:
Fragen stellen und fragen provozieren

Statt Sanktionen:
Einfühlung anbieten und Einfühlung stimulieren

Statt Frontalunterricht:
Zuhören können und Zuhören verlangen

Statt Reglementieren:
Beraten und Beratung veranlassen

Statt Fordern:
Fördern und Förderung vermitteln

Statt Gleichgültigkeit:
Herausfordern und Herausforderungen begegnen

Statt starrer Pläne annehmen:
Orientieren und Orientierung

Statt sturer Vorgaben:
Anregen und Anregungen entgegennehmen

Statt Defizitorientierung:
Stärken erkennen und entwickeln


Dieser Essay kann hier kommentiert und diskutiert werden.

© Dr. Dipl.-Psych. Hans Hermsen