Der Nacktmull (2011)

Schweißgebadet blickte ich mich um. Passierte das wirklich? War dies real? Oder spielte es sich nur in meinen zugegeben reichlich verquasten Hirnwindungen ab?

Da kam etwas auf mich zu. Etwas das, na wie soll ich es beschreiben, aussah wie eine Mischung aus Nacktmull und der Leiche meiner Großmutter mütterlicherseits, die letzten Herbst unter mysteriösen Umständen verstarb. Die Trauer damals hielt sich in Grenzen, terrorisierte Oma doch mit ihrer unerträglichen senil-diktatorischen Art die halbe, ach was quatsch ich, die ganze Nachbarschaft, selbstverständlich inklusive ihrer gesamten eigenen Familie, die sie deshalb am liebsten gerne einige Monate früher dem Grimmen Schnitter überantwortet hätte. Der eine oder andere zuvor Geplagte entzündete aus diesem freudigen Anlass spontan eine Kerze in der winzigen Kirche am Ende des Blocks, die vermutlich noch nie so viele Besucher hatte, wie an jenem Tag, an dem der olle Drachen endlich das zeitliche segnete.

Da stürzte nun dieses sabbernde, nackte und fürchterlich stinkende Etwas in meine Richtung. Ich präzisiere, "torkelte" ist der treffendere Ausdruck, denn schnell war es nicht. Spielend hätte ich diesem Ding davonlaufen können, wenn ich nicht zuvor in der zwielichtigen Spelunke am Hauptbahnhof aus Frust über den letzten Anschiss meines Chefs, der, nebenbei bemerkt, damals wie heute eine ziemlich fiese Drecksau war und ist, eine ganze Flasche Wodka miesester Qualität konsumiert hätte. Und dann war da noch der Wichser, der mir diese seltsamen Pillen andrehen wollte. Der Arsch, für wen hielt der mich? Für nen gottverdammten Junkie? Waren aber hübsch bunt die Teile, muss man sagen. Haben mich irgendwie an diese leckeren Schokolinsen erinnert, die ich als Kind so mochte. Ein regelmäßiges Mitbringsel meines fetten Onkels, auf dessen Schoß ich anschließend immer ausgiebig sitzen musste.

Später kam dann raus, dass er auch andere kleine Jungs aus dem Viertel gerne auf den Schoß nahm. Irgendwann haben sie ihn einfach weggesperrt, den lieben Onkel Bert, der wohl ebenfalls eine Drecksau war. Hab deswegen in der Bar auch nur zwei klitzekleine Pillchen gekauft, wegen der zwiespältigen Erinnerung. Zusammen mit dem vermutlich selbst gebrannten Fusel, den ich bereits intus hatte, war das eine recht durchschlagende Kombination. Ich hätte kotzen wollen, wenn ich denn gekonnt hätte.

Jedenfalls war ich nicht in der Lage vor diesem wandelnden Kuriosum zu flüchten, welches auch noch, leicht gebeugt allerdings, auf zwei Beinen daherkam. Insofern hätte dieses Studienobjekt, da bin ich sicher, Vertretern von Kryptozoologie und Anthropologie gleichermaßen Freude bereitet. Es hatte trotz seiner grausigen Erscheinung etwas rudimentär Menschliches an sich, ohne das ich Ihnen näher erläutern könnte, wodurch dieser Eindruck genau entstand.

Der mir entgegen strömende Geruch kann jedenfalls nicht Vater dieses Gedankens gewesen sein, dieser war gänzlich unmenschlich. Bereits die so gar nicht dezente Kopfnote war irgendwo angesiedelt zwischen frisch Erbrochenem und verschimmeltem Schafskäse und allein schon in der Lage, jedem durchschnittlich kultivierten Städter zu einer außergewöhnlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen. Die Beschreibungen der noch erheblich brachialeren Herz- und Basisnoten möchte ich Ihnen an dieser Stelle ersparen.

Was also tun? Mein durch diverse Substanzen beeinträchtigtes Haupthirn brachte lediglich drei Handlungsalternativen zustande:

Entweder die Polizei rufen, mein mickriges Klappmesser zücken oder ein Stoßgebet gen Himmel schicken. Animiert durch die oben ansatzweise beschriebene Geruchs-Melange sowie einem spontanen körperlichen Impuls folgend, entschied ich mich für Lösungsvariante Nummer Vier und göbelte dieser Ausgeburt der Hölle saftig vor die missgestalteten Füße. Damit brachte ich in dieser kaum beleuchteten, engen Gasse in epischer Form das zustande, wozu ich etwa eine Viertelstunde zuvor in "Gabis Ritzentreff" nicht fähig war. Ich war erleichtert, und in mir keimte für den Bruchteil einer Sekunde die Hoffnung auf, dass ES vor lauter Ekel über mein innerstes Produkt seinerseits nicht in der Lage sein würde, auch nur einen einzigen Zentimeter weiter zu schlurfen. Ein von mir geschaffener, unüberwindlicher gastritischer Schutzwall sozusagen.

Obwohl, Schutzwall? Gut, ein paar zünftige Brocken war`n wohl schon drin, für `ne ordentliche Bar­ri­e­re hat es dann aber doch nicht gereicht. Um es kurz zu machen: Pustekuchen, war nix. Das Wesen blickte gen Boden, kauerte sich mit knarrenden Gelenken gemächlich danieder und machte sich schmatzend und schlürfend über dieses zweifelhafte Mahl her, stand anschließend ebenso langsam wieder auf, wobei ihm ein kleiner Furz entfleuchte, den ich wegen meines eh schon überreizten Geruchsinns zum Glück nicht wahrnehmen konnte.
Ich blieb also von weiteren olfaktorischen Traumata vorerst verschont. Der darauf folgende, nicht zu überhörende Rülpser lies mich jedoch erneut erschauern: Dieser Laut drang als unmissverständliche Botschaft eines Gourmets an mein Ohr, welcher offenbar auf den Geschmack gekommen war.

In was für einen Albtraum war ich da nur geraten? Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Irgendeine unverzeihliche Sünde begangen, für die mich der Herrgott nun büßen lassen wollte? Gut ich war ein paar Male im Puff, na und? Reicht das etwa schon, um die Anforderungskriterien für eine Todsünde zu erfüllen?

Falls das tatsächlich so sein sollte, hätte ich dem göttlichen Qualitätsmanagement vor meinem gewaltsamen Ableben ganz gerne noch mal schnell meine Änderungsvorschläge vorgetragen. Powerpoint kann ich ja`n bisschen, hab in grauer Vorzeit mal vom Amt aus einen Kurs an der VHS besuchen dürfen. Computer sind insgesamt nicht so ganz mein Ding, dafür waren die überaus straffen Möpse der Kursleiterin allerdings top. Das dadurch hervorgerufene Aufmerksamkeitsdefizit minderte den angestrebten Lernerfolg jedoch beträchtlich.

Oder hatte ich gar bei einer der zahlreichen illegalen Pokerrunden irgendwann einmal völlig unbewusst meine Seele dem Teufel übereignet? Naja, wär gut möglich bei den Verlusten, die ich hatte. Mit materiellen Besitztümern ist bei mir ja noch nie dicke gewesen. Der spärliche Erbschaftsanteil von Omi war auch schnell verzockt. Die Spackos mit denen ich regelmäßig am Tisch saß waren eh allesamt unsauber, dubioses Pack, spielsüchtige Möchtegern-Luden! Bei dieser Erklärungsvariante wäre der zu blass geratene Feinschmecker, mit dem ich mich konfrontiert sah, wohl so etwas wie ein niederer Logistik-Dämon, eine Art höllischer Hermes-Bote, beauftragt mit der Verschickung gefallener Seelen ins Fegefeuer. Das Marinieren und Brutzeln des frisch eingetroffenen Delinquenten übernähmen dann aber sicher Andere. Wär mir letzten Endes wohl auch wurscht.

Apropos, seitdem ich diese einschneidende Begegnung hatte, kann ich bis zum heutigen Tage keine Weißwürste mehr sehen geschweige denn anpacken, ohne gleich posttraumatische Flashbacks heraufzubeschwören. Gott, die Erinnerung an diese schmierig-bleiche, fast transparente Haut ohne erkennbare Behaarung treibt mir immer noch den kalten Schweiß auf die Stirn.

Über 15 Jahre ist das schon her und mir wird immer noch übel, wenn ich an dieses grauenerregende Lebewesen denke, das mich in jener lauen Sommernacht heimsuchte. Aber lebte es überhaupt? Den deftigen Ausdünstungen nach zu urteilen wohl eher nicht. Scheiße, selbst der fieseste meiner ehemaligen Stubenkameraden beim Bund hat nicht so bestialisch gemüffelt! Etwas Vitales, Lebendiges darf einfach nicht so abartig riechen, basta! Jedoch, das lukullische Schmausen, welches ich damals gezwungen war mit anzusehen, offenbart rückblickend eine sinnliche Genussfreude, die toten Körpern in der Regel abgeht. Auch die akustisch eindrucksvoll angedeuteten Verdauungsprozesse schienen eher "pralles Leben" zu sein.

Wie ich es auch drehe und wende, ich komme einfach nicht zu einer endgültigen, abschließenden Einschätzung. Bin einfach froh, dass diese Kreatur niemals mehr meinen Weg kreuzte. Ich bin ja auch nicht so der verpeilte Eierkopp, der alles tausendmal rauf und runter denkt und dann wieder von vorne anfängt, nee lass mal stecken. Dreht man ja am Ende noch durch. Alles x-fach wiederkäuen wie so ein dämliches Rind, nicht mit mir Freunde der Sonne! Da kau ich lieber auf dem leckeren Priem herum, den mir der alte Hans mal vor Jahren aus USA mitgebracht hatte. Das ist noch ein echter Kerl, bisschen grob vielleicht, aber sonst ein klasse Typ. Arbeitet jetzt in dem Tabakwarenladen in der Nähe des Marktplatzes.
Da gibts aber schon länger keinen Kautabak mehr zu kaufen, nur noch weichgespülten Schwuchtelkram wie Elektrozigarette und so. Ist als Seemann viel rumgekommen, der Hans, hat viel irres Zeug gesehen und war nie abgeneigt, seine Storys spannend ausgeschmückt zum Besten zu geben. Aber so ein abgedrehter, zutiefst kranker Nacktmull-Scheiß war noch nie dabei, ich schwörs!

Wie? Da fehlt ein Teil der Geschichte? Sie sind aber aufdringlich, meine Fresse. Sein Sie lieber froh, dass ich Ihnen Weiteres aus purer Güte vorenthalte! Sie wollen heute doch sicher noch mal irgendwann eine warme Mahlzeit zu sich nehmen, ohne dass sich Ihnen automatisch der Magen umdreht, oder? Undankbare Unsympathen gibts wirklich überall, nicht zu fassen! Gut, hab halt ein bisschen was weggelassen, und jetzt? Wie Sie als intellektueller Neuronenbeschleuniger sicher bereits bemerkt haben: Ich habe dieses äußerst unappetitliche, dämonische Stelldichein in der Tat überlebt. Dass ich fast ungeschoren davonkam, hatte ich aber definitiv nicht der unseligen Oma Hedwig zu verdanken. Das muss reichen für heute. Schicht im Schacht!


© Konrad Jaeger