Erinnerungen an meinen Großvater, der Künstler (2016)

Ich war vielleicht sieben und saß morgens am Küchentisch der kleinen Wohnung in der Ückendorfer Straße in Gelsenkirchen, schmausend über Toast mit Butter und Honig, als mich das Klingeln an der Wohnungstür aus meiner kindlichen Selbstvergessenheit riss. Der Mann mit Cordhut und Oberlippenbart, der in meine beschützende Blase aus mütterlicher Geborgenheit und sorgenfreiem Frühstücksgenuss eindrang, war der Vater meiner Mutter.

Mein kindliches Gemüt war offenbar nicht besonders erfreut über diese unverschämte Störung eines mir weitgehend unbekannten Mannes, denn ich begrüßte ihn rustikal mit den Worten “Du bist nicht mein Opa!”, was dieser mit vergnügter Gelassenheit milde lächelnd zur Kenntnis nahm. Wer sollte es mir verdenken? Bis zu diesem Zeitpunkt gab es kaum Kontakt zu meinem Großvater mütterlicherseits.

Schwach erinnern kann ich mich lediglich an einen kurzen Besuch zu meiner Einschulung an der Bonifacius-Grundschule in Essen, belegt durch ein altes Polaroid, einen Abstecher in ein recht düsteres, seltsam riechendes Fotoatelier, das mir damals beengt und wenig einladend vorkam, und eben den bereits geschilderten morgendlichen Störfall.

Der rege Austausch mit Opa Thiel begann erst mit dem Einzug in die Bergmannsglückstraße ab etwa Mitte der 1980er Jahre. Die gesamte untere Etage dieses großen Hauses, ein ehemaliges Bergarbeiter-Hospital, wurde kurzerhand zur Kunstzone erklärt und beherbergte Fotolabor, Bibliothek, Ateliers, Werk- und Lagerräume. Im kreativen Chaos dieser Räumlichkeiten ließ es sich als neugieriger Teenager wunderbar stöbern. Es gab immer etwas Interessantes, Kurioses, Spannendes zu entdecken.

Gerne erinnere ich mich an die vielen Abende, an denen ich mit meinem Großvater über Gott und die Welt sprach, diskutierte, lachte und manchmal auch stritt. Ein ständiges Kernthema war selbstverständlich die Kunst, daran führte kein Weg vorbei. Den Satz “Junge, Du musst immer fein unterscheiden zwischen Kunst und Dekoration.” habe ich noch heute im Ohr.

Bewundert habe ich stets, dass Werner Thiel sein kreatives Schaffen nie auf einen einzigen Stil oder ein einziges Medium beschränkte. Diese Vielfältigkeit und das Experimentieren, Weiterentwickeln, sich Neuem zuwenden ist für mich bis heute ein wesentliches Merkmal schöpferischer Genialität.

Peinlicherweise muss ich gestehen, dass ich mich als Heranwachsender nie getraut habe, ihn konkret nach dem Grund für die, vor allem in den späteren Collagen, wiederkehrenden Phallus-Motive zu fragen. Diese sorgten während einer Ausstellung im Hans-Sachs-Haus für Kontroversen unter eifrigen Feministen, was ich damals recht unterhaltsam und vergnüglich fand.

Die Kunst nahm einen sehr großen Teil seines Lebens und Wirkens ein. Andere, ebenfalls wichtige Dinge wurden dieser einen Leidenschaft häufig rigoros untergeordnet. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass er mir gegenüber mehrfach andeutete, es zu bedauern sich nicht mehr um die Belange und Bedürfnisse seiner Lieben gekümmert zu haben. Den Wert familiären Zusammenhalts betonte er auf seine alten Tage zunehmend.

Ein weiteres großes, zwischen Enkel und Großvater häufig besprochenes, Thema war die Historie rund um den Zweiten Weltkrieg. Für mich waren gerade diese Gespräche mit einem Zeitzeugen aus der eigenen Verwandtschaft äußerst wertvoll. Neben meiner geförderten Begeisterung für Kunst bin ich für diese lehrreichen, manchmal traurigen und schockierenden Impulse besonders dankbar. Der aufmerksame Beobachter seines Gesamtwerks wird immer wieder Symbole und Konfigurationen entdecken, die auf selbst erlebte Kriegsgräuel und durchgestandene Todesängste hindeuten.

Zahlreiche Anekdoten wusste er zu berichten: Wie er zum Beispiel vom eigenen Gruppenführer unter vorgehaltener Pistole dazu gezwungen wurde, trotz des massiven russischen Feindfeuers, aufzuspringen und als Melder zum Gefechtsstand zurückzurennen. Er wurde, wie durch ein Wunder, nicht getroffen und überlebte so einen weiteren Tag unverletzt. Es fiel ihm, so schien es, nicht immer leicht, diese Erinnerungen mit mir zu teilen. Und doch hatte ich den Eindruck, dass es ihm gut tat über solche Erlebnisse zu sprechen. Rückblickend bereue ich jedoch, ihm die ganz unangenehmen Fragen nicht gestellt zu haben. Eine verpasste Chance.

Als ich meinen Großvater 2003 das letzte Mal sah, drückte ich ihm stolz ein kleines Ultraschallfoto in die Hand. Darauf war undeutlich ein winziges lebendes Etwas zu erkennen, aus dem später meine geliebte Tochter werden sollte, die noch im selben Jahr geboren wurde. Still und nachdenklich betrachtete er das Bildchen. Der besorgte Enkel sagte “Komm bald wieder gesund nach Hause, Du musst mir noch so viel zeigen.” Der Großvater nickte leicht und antwortete leise “Vielleicht ... vielleicht.” An der Tür drehte ich mich noch einmal um und sah meinen Opa Werner, mit Vollbart und ohne den sonst obligatorischen Hut, im Krankenbett einer Intensivstation liegend, wie er mir zum Abschied noch einmal zuwinkte. Es wirkte fast heiter und beschwingt.


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© Stefan Lojewski